Als klar wurde, dass die diesjährige WM in Menzelinsk, Russland, nahe des Ural stattfinden würde, traf diese Entscheidung im deutschen Lager nicht auf ungeteilte Freude. Die Abenteuer vergangener Russlandtrips waren noch zu nah, und der Wunsch, einmal nach Brasilien, Australien oder auch Thailand zu reisen zu verlockend. Aber immerhin, verglichen mit dem verregneten Maubeuge und dem Pilatus Porter als Absetzmaschine versprach diese Reise auf alle Fälle einen erhöhten Unterhaltungswert. Trotz der Absage des Nationalachters
hatte die Delegation aus Deutschland ein stattliches Aufgebot vorzuweisen:
Drei Viererteams – „Paratec Saar“ in der offenen Klasse, „ISB Air“ in der Frauenwertung
und „Acro Amigos“ im VRW, das Freeflyteam „GoJump Artifex“ sowie die Packmädels Kati und Silke vertraten die deutschen Farben bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
Die ersten kleineren Widrigkeiten erlebten wir bereits am Frankfurter Flughafen:
Trotz intensiver Vorarbeit von Helmut Bastuck versuchte die deutsche Lufthansa mit allen Mitteln uns bzw. unser Gepäck am Flug ins ferne Wolgatal zu hindern. Nachdem diese Hürde genommen war, landeten wir 7 Stunden später in Kazan, der Hauptstadt der Teilrepublik Tatarstan. Die nächste Überraschung wartete prompt. Nachdem uns Helfer des Organisationskomitees freundlich in Empfang genommen hatten und unser Gepäck in einen durchaus komfortablen (nach dortigen Maßstäben) Bus geladen hatten, richteten wir uns auf den kurzen, vielleicht zwei Stunden dauernden Bustransfer ein – die Strecke nach Menzelinsk betrug laut GoogleMaps ja nur 185 km.
Dank russischer Straßen erreichten wir knapp 6 Stunden später unser Hotel bzw. den Ort, an dem wir die kommenden zwei Wochen wohnten: Ein Sanatorium in Naberezhnye Chelny, der nächstgrößeren Stadt. Waren zu Beginn der Weltmeisterschaft noch alle Nationen in diesem russischen Krankenhaus untergebracht, hielten nur die Golden Knights, Portugal, Dänemark und die Deutschen bis zum Schluss durch. Gründe hierfür waren wohl die nicht vorhandene Klimaanlage, die benachbarte Moschee (inklusive mehrfacher nächtlicher Gebetsaufrufe), die Hauptstraße sowie die Krankenhausmensa.
Wir zogen stattdessen die Vorzüge des nahen Supermarkts vor und die Wiesen und Wälder rund um die nahgelegene Wolga, die zu abendlichen Jogging- und Schwimmrunden einluden und freuten uns, dass unser Hotel die kürzeste Anfahrtsstrecke zum Sprungplatz bot: 53 Minuten (kein Scherz!). So kam es, dass man eingedenk der Wartezeiten zum Befüllen der Fahrzeuge täglich ca. zweieinhalb Stunden im Bus verbrachte.
Immerhin waren diese in der Regel klimatisiert. Gegenteilig erlebten wir dafür den Sprungplatz, die dortige Organisation und vor allem auch den Wettkampf. Die Veranstalter haben sich unglaubliche Mühe gegeben. Rund um die Start- und Landebahn war eine kleine Stadt aufgebaut: Teamzelte, Verkaufsstände, reichhaltige Essensangebote, sanitäre Anlagen, ein schattenspendender Hain – alles war perfekt vorbereitet. Unzählige Freiwillige – meist Studentinnen – standen uns dort nicht nur auf dem Sprungplatz als Übersetzerinnen und Helferinnen in der Not zur Verfügung. So konnten auch die kleinen Sprachbarrieren gemeistert werden. Schon während der Trainingswoche boten das Manifest und die drei Turbolets optimale Bedingungen, auch wenn es hier und da zu etwas längeren Wartezeiten kam. Auch während des Wettkampfs, bei dem die Disziplinen gut aufgeteilt waren, so dass man in der Regel den halben Tag frei hatte, funktionierte die Bodenarbeit der Organisatoren weitgehend problemlos.
Das Wetter tat sein übriges zu einem reibungslosen Ablauf. Neben einem heftigen Gewitter blieb es die ganzen zwei Wochen trocken, heiß und verraucht.
Auch wir waren, wenn auch nur am Rande, Opfer der verheerenden Brände.
Gottseidank waren diese nicht in unmittelbarer Nähe, aber während der zweiten Woche sahen wir die Sonne nur als roten Feuerball hinter einer dauerhaften Rauchfahne. Bereits ab 600 m sah man den Boden wirklich nur noch direkt unter sich. Vor allem die Freeflyer litten unter diesen Bedingungen, da ihre „Carving-Moves“ auf Grund des patinierten Hintergrunds doch wenig spektakulär aussahen.
Um das Bild einer (am Platz) rundum geverschiedener landestypischer Tänze, Bräuche, Sportarten und Sitten, hochrangige Redner, spektakuläre Fallschirmsprünge mit einer ca. 600 qm großen Flagge, dazu ein gigantisches Publikum, all dies und vieles mehr lassen diese Feiern sicher für alle Beteiligten ein unvergessliches Erlebnis bleiben.
Nun soll abschließend noch ein Blick auf den eigentlichen Grund dieser Reise, die Wettkämpfe geworfen werden.
Unter vielen Aspekten war es wohl ein einmaliger Wettkampf. Im Formationsspringen war die Vergabe von Gold und Silber wohl lange nicht mehr so knapp wie dieses Jahr – sowohl im Achter als auch im offenen Vierer musste Runde 10 die Entscheidung bringen. Mit dem womöglich gigantischsten Sprung aller Zeiten sicherte sich spät am Abend des 4. August 2010 der französische Vierer den Weltmeistertitel. Bei dem Sprung 22-B-16 gelangen ihnen unglaubliche 26 Punkte. Nach dem bereits nachmittags gefeierten Sieg im Achter war Mathieu Bernier damit als erstem Wettkämpfer der Doppelschlag gelungenen:
Weltmeister im Vierer mit einem Punkteschnitt von 27,7 und Weltmeister im Achter mit einem Schnitt von 20,3. Abgerundet wurde der französische Erfolg vom Sieg in der Frauenwertung und im VRW. Somit gingen alle Formationstitel dieses Jahr nach Frankreich, sicher nicht zuletzt ein Resultat der einmaligen Strukturen im französischen Verband und der großen Unterstützung, die diese Sportart dort auch seitens der Öffentlichkeit und der zuständigen Ministerien genießt.
Aber auch die deutschen Teams mussten sich mit ihren Leistungen nicht verstecken.
Die Freeflyer errangen einen respektablen 6. Platz bei 12 teilnehmenden Teams, sprangen ihre persönliche Bestleistung und einen neuen Deutschen Rekord mit 15 Punkten während
einer Speedrunde. Auch die Amigos des VRW schafften mit 14 Punkten einen neuen Deutschen Rekord, und wenn das Filmen nicht so ungemein knifflig wäre, hätte am Ende gar eine
Medaille rausspringen können. So stand zum Schluss nach zahlreichen NJs der vierte Platz, ein Platz vor den deutlich besser vorbereiteten Belgiern.
Die Mädels von ISB Air schlugen sich während des gesamten Wettkampfes fantastisch und waren den US-Girls über eine lange Zeit ein ernstzunehmender Gegner, auch wenn sie sich
zum Schluss geschlagen geben mussten.
Aber in der neuen Besetzung (Sarah Hajooze, Susa Serra, Pia Weingart, Anne Heinrich und Andi Boss) gelang ihnen ihr bester Punkteschnitt (18,0), zehn (fast) fehlerfreie Runden und ein vierter Platz in der Damenwertung. Trotz zweiBusts sprangen sie außerdem in Runde 3 mit 30 Punkten einen neuen Deutschen Damenrekord.
Und auch wir waren sicher nicht ganz unzufrieden. Es war schon ein relativ bewegender Moment, zumindest kurzzeitig den neuen Weltrekord inne zu haben und mit den amtierenden Weltmeistern in einem Randomsprung gleichzuziehen. Bereits vom Exit war das Gefühl bei dem Sprung in Runde 3 ziemlich abgefahren. Der Breakdown bei gefühlter Sekunde 30 war jedoch so niederschmetternd, dass mein Protrack auf der Landewiese einer spontanen Funktionskontrolle ausgesetzt wurde.
Umso ergreifender war der Moment, als klar war, dass der Sprung 35 Sekunden ohne einen Haker verlaufen war. Das darauf nicht vorbereitete Omniscore war da nur noch nebensächlich. Aber auch die anderen Sprünge verliefen ganz nach unseren Vorstellungen, waneun Runden (nach 10 Runden wohl eher 22,0), ein neuer Deutscher Rekord mit 53 Punkten, der siebte Platz bei einer Weltmeisterschaft und damit der unangefochtene Titel des Amateurweltmeisters sind sicher das Ergebnis dieser auch international einmaligen Zeitspanne, die unser Team nunmehr zusammen ist.
WM Ergebnisse
RW 4er
1. Frankreich
2. USA
3. Russland
7. Deutschland
RW 4er Frauen
1. Frankreich
2. Grosspritannien
3. USA
4. Deutschland
Vertical FS
1. Frankreich
2. Grossbritannien
3. USA
4. Deutschland
Freefly
1. USA 1
2. Grossbritannien
3. USA 2
6. Deutschland
Max Thiele